#9 | Bellboy, Berlin, Germany
Last Visit: Summer 2022
Es gibt einen unbestrittenen Drang der Menschen, nach einem Flair der Nostalgie, das sie umgibt, wie der Rauch von Zigarren und die Jazzband im Hintergrund. Wie Babylon Berlin zu sehen, aber erst, nachdem man mit dem Uber von der 20er-Jahre-Party nach Hause gefahren ist, wo die vorbereitete und gelieferte Mahlzeit im schicken Smart-Fridge wartet. Das Bellboy, 2021/22 eröffnet, nennt seinen eigenen Ansatz "whimsical" und den vollen Tischen nach zu urteilen, war es vielleicht genau das, worauf die Leute nach den nüchternen Jahren der Pandemie gewartet haben. Ein bisschen Mixology-Magie, ein bisschen Rauchmaschine und Spiegeltricks, allerdings auf die gefällige, kuratierte Art.
Ich war ein wenig besorgt, dass mit dem Frederick's, das bereits auf der Liste für diese Reise nach Berlin stand, die Kategorie des "nostalgischen Trinktempels" überfüllt sein würde. Letztendlich bin ich aber froh, dass ich es geschafft habe, das Bellboy zu sehen und mich vorher von den meisten Erwartungen befreit zu haben. Erwartungen sind die stillen Gäste, die uns alle begleiten und im Fall dieser neuen Cocktailbar in einer Ecke des Gendarmenmarkts werden sie wahrscheinlich das sein, was diejenigen, die sich dort wie zu Hause fühlen, von denjenigen trennt, die sich fragen, wo die Magie ist, wenn sich der Rauch verzogen hat, das “charmant-witzige“ Dekor des Drinks seinen Eindruck hinterlassen hat und der zweite und dritte Drink genauso angenehm durchschnittlich schmeckt wie der erste.
Dies ist die erste Expansion der Bellboy Group außerhalb Israels, wobei das Bellboy Tel Aviv die Inspiration für das Bellboy Berlin war und das geplante Butler Berlin, wie man sich denken kann, das Butler Tel Aviv widerspiegelt. Ich hatte keine vorherige Reservierung, und es hätte mich nicht gewundert, wenn ein so zentral gelegener, auffälliger neue Ort mich mit einer langen Schlange vor der Tür begrüßt hätte. Glücklicherweise war das nicht der Fall und wenn es eine Stärke des Bellboy als Bar gibt, dann ist es das effektive und optimierte System, mit dem dort arbeitet wird. In, zumindest heutzutage, bekannter Speakeasy-Manier wartet man in einem kleinen Raum vor der eigentlichen Bar, in dem das Hotelthema durch einen hölzernen Concierge-Schalter repräsentiert wird. Der Charme wird nur dadurch unterbrochen, dass das Personal die Gäste über Headsets schnell einschätzt und zuweist, was mir eher das Gefühl gab, ein Treffen mit dem Präsidenten und seinem Secret Service zu haben, als willkommen zu sein, um der Außenwelt zu entkommen.
Die Einrichtung selbst tut ihr Bestes, um vor Charakter und Reizüberflutung zu strotzen. Während das in vielen Bars aufgrund der zahlreichen Flaschen hinter der Theke oder der Musik der Fall sein kann, ist es im Bellboy weniger die Bar selbst, sondern der Raum, der mit Vintage-Einrichtung und Samtdekor gefüllt ist und Ecken zum Entdecken bietet. Heutzutage kann eine Bar natürlich nicht nur eine Bar sein und wie viele Neueröffnungen verfügt das Bellboy auch über einen separaten Raum für private Anlässe oder kulinarische Veranstaltungen, den ich selbst noch nicht gesehen habe, auf den mich das Personal aber hinwies.
Innerhalb von zwei Minuten, nachdem man sich an einen der letzten freien Tische im Bellboy gesetzt hat, kommen Leitungswasser, die Karte und ein/eine Kellner/in, der oder die für deinen Tisch zuständig ist und alle fünf Minuten kommt, um nach deinem Drink und den nächsten Bestellungen zu fragen. Oberflächlich betrachtet ist das aufmerksam, ja sogar höflich, aber wenn immer wieder nach dem zweiten Getränk gefragt wird, während man gerade das leere Glas des ersten auf den Tisch stellt, könnte hinter dieser Art von Beziehung zu den Gästen auch eine andere Philosophie stecken.
Call Me Old Fashioned:
| Bellboy Tonka Rum
| Bellboy Kirsch Amaro
| Pekannuss-Ahorn-Sirup
| Branca Menta
| Peychaud’s Bitters
Ich warte immer noch darauf, dass Tonka bei Cocktails eine richtige Rückkehr erlebt. Ich habe mich in dieses Aroma verliebt, als ich vor vielen, vielen Jahren im Adlon in Berlin einen Kaffee mit Tonka-Aroma hatte. Meine Hoffnung, diesen Geschmack nur wenige Minuten von der alten Pracht des Hotels entfernt wiederzufinden, verflog jedoch schnell. Der (Call Me) Old Fashioned ist zwar nicht schlecht, aber er fängt eher die grundlegenden Aromen von Cocktails in den ersten Jahrzehnten ihrer Entstehung ein. Der Alkohol wird auf angenehme Weise überdeckt und es wird mit Zutaten gearbeitet, die damals üblich waren. Keiner der interessanten Aspekte, und vielleicht sind es grundlegend einfach zu viele, (Tonka, Rum, Kirsche, Amaro, Pekannuss, ...) stach wirklich hervor, alles vermischt sich zu einem leicht bitter-süßen, schokoladigen Drink, der auch mehr in Richtung Manhattan abschweift, als dass er um den hausgemachten Rum herum aufgebaut wurde.
Miss-Behave:
| Hibiscus Vodka
| Rosebud Jam
| Lemon Curd
| Lychee Liqueur
| Raspberry Syrup
| Strawberry Aperol
| Bellboy Tea Cordial
Süß, sanft, in rotem Samt versinkend. Dies ist ein Cocktail für ein Date oder nach dem Kauf von Vintage-Kleidung, aber warum, frage ich mich, braucht es all diese Zutaten (zum Preis von 15 €). Er enthält vier fruchtige und blumige Zutaten, die dem Getränk nichts hinzufügen, und während der Lemon Curd und der Aperol wahrscheinlich die Süße ausgleichen sollten, verwirrt das eher Menschen, wenn sie versuchen herauszufinden, wie dieses Getränk schmecken wird, wenn sie es bestellen.
Bei einer so umfangreichen Karte, einer Auswahl an Essen und Events und einer geschäftigen, aber konzentrierten Servicekultur schien es ziemlich schwierig zu sein, herauszufinden, welche Art von Kreativität und Können hinter der großartigen Fassade von Design und Zutaten steckt. Wenn ich wiederkäme, würde ich versuchen, abseits der vorgegebenen Cocktailkarte zu bestellen, aber irgendetwas sagt mir, dass sich die "perfekt kuratierte" Auswahl nicht gut mit den Wünschen solcher Gäste vertragen könnte. Ähnlich wie im Frederick's schätzt man im Bellboy ungewöhnliche Spirituosen, hausgemachte Liköre und natürlich das hohe Niveau der technischen Möglichkeiten, die alle Bars, die auf diesem Niveau eröffnen, bieten. Es ist nur ein bisschen schade, dass für alle, die sich für Cherry Amaros, Banana Rums, Vermouth Blends, Bellboy Vodkas, Blossom Cordials, Piscos und so weiter interessieren, wenig davon in den Drinks zu finden ist, die serviert werden.
Was bleibt denn, wenn sich der Samtvorhang schließt und man wieder in die Berliner Nacht hinaustritt? Meistens das Gefühl, unterhalten und gut bewirtet worden zu sein. Wenn man zum dritten oder vierten Mal einer Gruppe von Menschen dabei zusieht, wie sie ihren Drink in einem badewannenförmigen Becher mit Seifenschaum obenauf serviert bekommen und das unterhaltsamer zu sein scheint als das eigene Getränk, dann fühlt man sich ein bisschen wie in einem Theaterstück, das man schon ein Dutzend Mal gesehen hat. Die Kostüme sind beeindruckend, der Veranstaltungsort nett, es gibt schickes und kompetentes Personal, die einem den Weg zum Platz zeigen, aber eine Überraschung in der Aufführung gibt es nicht und die Handlung plätschert dahin, obwohl das Bühnenbild doch etwas mehr Tiefe versprochen hatte.
Wie immer freuen wir uns auf eure Meinung und vielleicht auch darauf, dass ihr euch die anderen Artikel zu Berliner Bars anschaut, Cheers.