#31 | Kronenhalle, Zurich, Switzerland
Last Visit: December 2023
100 Jahre. Ein gesamtes Jahrhundert. Das muss man sich mal vergegenwärtigen. 1924 starb Lenin zu Anfang des Jahres, Hoover wurde FBI-Direktor und später im Jahr endete erfolgreich die erste (mehr-etappige) Weltumrundung eines Flugzeugs in Seattle. Und mittendrin erwarben Hulda und ihr Gatte Gottlieb Zumsteg das heruntergekommene Hôtel de la Couronne am Zürcher Bellevue und eröffneten noch im selben Jahr ein Restaurant in der Location, bodenständig, aber qualitativ stets hochwertig.
1965 folgte dann die klassische American Bar, um die es heute gehen soll und über die man ähnliches sagen kann. Beide wurden für sich zu absoluten Zürcher Institutionen und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, mit dementsprechend illustren Gästen. Yves Saint Laurent, James Joyce oder Friedrich Dürrenmatt, man könnte die Liste lange fortführen.
In solch altehrwürdigen Bars, dann noch mit dem klassischen Ambiente – auf das wir noch zu sprechen kommen – kann man als up-to-date Bar-Nerd mal schnell Sorge bekommen, dass einen etwas Verkrustetes und Altbackenes erwarten wird. Dass die Zutatenverhältnisse oder genutzten Marken vielleicht ein oder zwei Jahrzehnte vorher stimmig gewirkt hätten, aber nicht heute. Daher hatte ich mir im Voraus auch eher eine niedrige Erwartungsschranke gesetzt und mich einfach auf das Interieur gefreut. Aber ich verrate bereits: Was habe ich mich getäuscht.
Doch zunächst musste ich mal die korrekte Tür finden, 3 Stück an der Zahl, zunächst eine zum Restaurant getrennt, eine größere, die jedoch wie ein normaler Hauseingang zu einem Wohnblock wirkt von außen (und auch quasi ist), dann eine theoretische (da geschlossen tagsüber) zur Bar getrennt. Sagen wir, ich habe es geschafft, die 2 falschen zu versuchen und eine davon fast noch einmal, da ich immer noch dachte „Ne, hier geht es ja in das Haus rein“ …
Einmal drinnen geht man an einer Treppe vorbei, sowie an eingelassenen Vitrinen mit Geschichte und Memorabilien des Restaurants und der Bar und findet sich links durch einen Durchgang gehend plötzlich, aus dem eher grob-steinernen Eingangsraum des Blocks kommend, in einer anderen Welt wieder. Wie mit einem Schnippen kein Stein mehr, sondern ein kleiner Übergangsraum in fein gearbeitetem, dunklem Holz, eine Garderobe, man fühlt sich angekommen und fragt sich „Was kommt jetzt?“. Und was jetzt kommt ist schlicht und ergreifend eine der ästhetisch schönsten, zugleich klassischen, aber zeitlosen Bars, die ich je betreten habe. Der einzigartige Braunton, die geometrischen Formen, die überall überlappen. Mal kantig groß, mal zart abgerundet, das intensive und doch matt-elegante Grün, die maserierten Steintische und fast gotisch-groben, herabhängenden Leuchter an anderen Stellen, der Jugendstil der Tischlampen. Echte Picassos und Mirós an der Wand dazwischen. Echte. Picassos und Mirós. Soll ich es ein weiteres Mal wiederholen?
Ich kann wirklich nur sagen, auch wenn die Fotos bereits beeindrucken: Es wirkt nochmal komplett anders, wenn man die Immersion vor Ort erlebt, mehr jedem Alter entrückt und direkter. Man bemerkt immer mal wieder Details und einem fällt, auf warum man das so genial findet, beispielsweise, dass die Backbar eben nicht einfach ein Regal ist, sondern quasi wie in die Wand eingelassen. Noch verrückter, da so noch nie gesehen, empfand ich die Auslage von Tischtüchern als Unterlagen für die Mixing-Fläche, wie man in den Cocktail-Fotos unten sehen kann. Ein Detail, das direkt eine gewisse Wertigkeit, Tradition und Luxus versprüht.
Copyright: Instagram Martyn Bullard
Das Menü, klassisch gebunden und handlich, ist unterteilt in wechselnde Seasonal Drinks, gefolgt von drei alkoholfreien Cocktails (interessant, dass diese quasi mittig und nicht wie oft einfach ans Ende platziert wurden), dann den „Klassikern der Kronenhalle“ und final einer Seite mit quasi Classics und Modern Classics, hier elegant als „Zeitlose Trouvaillen“ bezeichnet. Yes, I had to google that one too.
Zwei Dinge, die es mir besonders angetan haben: Ich finde es immer top, eine kleine Auswahl von Signature „Klassikern“ der Bar auf der Karte zu finden oder zumindest parat zu haben. Nichts cooler als nur temporärer Gast in der Stadt auch die Möglichkeit zu haben, die Alltime-Favourites einer bekannten Bar probieren zu können. Außerdem als Zweites die Auswahl jener (Modern) Classics danach, Brandy Crusta, Jasmine, French Connection (oh, yes), Nuclear Daiquiri, usw., zu oft finden sich die immergleichen Drinks in solchen Kategorien. Zudem verschwimmen die Grenzen zu Eigenkreationen, denn der Bamboo und Adonis (erneut, was für verdammt gute Picks) auf der Seite sind sogar als etwas eigener Riff interpretiert, mit beispielsweise einerseits Cashew Brandy und andererseits Mirabellenbrand.
Dem Ganzen folgt natürlich noch hochklassiger Champagner, eine kleine, aber sehr feine Auswahl offener Weine (im Restaurant freilich dann das komplette Programm), eine angemessene Spirituosenauswahl, sowie um die 10 Gerichte aus der Küche. Bei den Spirituosen fallen auch einige besondere Positionen auf, beispielsweise hervorragende Obstbrände, unter anderem ist Rochelt am häufigsten vertreten, 20- und 30-jähriger Portwein unterschiedlicher Häuser, sowie 15-Jähriger und sogar Jahrgangs-Pineau de Charentes (bitte mehr davon in Bars, danke).
Lost in Berlin
| Vermouth
| Amaro
| Quince
Amaro (eine meiner großen Lieben), spannende Kombination an wenigen Zutaten, interessanter Name, bestellt! Erwartet hat mich einer meiner liebsten Aperitifdrinks in letzter Zeit. Beim italienischen Bitterlikör handelt es sich um Montenegro, Quitte meint einen Brand und der Wermut ist sogar ein deutscher, Merwut! Silky, smooth, sehr elegant und doch volle Power an Aromen, besser kann man in einen Cocktailtag nicht einsteigen. Noten von Trauben, leichte Säure vom Wermut, Trockenfrüchte, Orangenschalen, mediterrane und andere Kräuter und Gewürze, dazu ein Hauch Frucht der Quitte. Jede Bar sollte einfach eine Handvoll Aperitifdrinks, stirred, mit fortifizierten Weinen oder Amaros parat haben. Einfach einen Haufen Longdrinks, mit ähnlichem Gesamtalkoholgehalt, dafür rausschmeißen. Aber leider hört man ja nicht auf mich … Nicht zum letzten Mal wurde mir aufgrund meiner Begeisterung eine Zutat zum pur testen aufs Haus eingeschüttet, hier der Merwut. Große Empfehlung, was diesen betrifft, komplex, man denke Richtung Ambrato, also ein Bianco mit etwas mehr würzigen Noten, gleichzeitig behält er aber seine schöne Lebendigkeit.
Nussknacker
| Cashew Brandy
| Whiskey
| Sherry
| Verjus
| Pimento
| Vanilla
Den zweiten Drink des Besuchs hatte ich auch schnell identifiziert, da ich zufälligerweise einige Wochen zuvor erstmals von einem Cashew Brandy gelesen hatte, sehr spannend fand und vermutete hier exakt den wiederzufinden. Das war auch der Fall, es handelt sich um den unten zu sehenden MiM Cashew Brandy, der übrigens auch in einem Drink in der No Idea Bar steckt, doppelt besiegelte Qualität also. Auch diesen durfte ich wieder pur probieren und war begeistert. In Qualität wirklich wie ein Edelbrand aus österreichischen oder deutschen Landen, wundervoll nussig, authentisch, mit fast keinem Brennen im Abgang. Aber zurück zum Drink, Sherry meint hier P.X. (von Lustau), Whiskey, den von mir eh geliebten Knob Creek und damit durchaus Premium für den alltäglichen Bargebrauch, dazu Pimento Dram, hausgemachter Vanillesirup und nur ein Tick Verjus. Letzterer führt dazu, dass man also nicht direkt von deftig-nussigen Aromen erschlagen wird, sondern eine gewisse Frische und Leichtigkeit im Spiel ist, auch der cleane Körper des Brandys führt zu einer erneut eleganten Angelegenheit. Nuss, helle Rosinen, frische Eiche, Piment und zurückhaltende Säure ergeben eine top Kreation.
Die Kronenhalle hat mich wirklich begeistert und meine Befürchtungen vor zu viel „Angestaubten“ als völlig albern dastehen lassen. Klar, progressiv-konzeptbasierte Rotovap- und Fermentations-Menüs wird man hier nicht finden, doch steckt durchaus viel Kreativität in dem Menü und das Handwerk ist über alles erhaben, ebenso wie die Auswahl der perfekten Zutaten. Der Service ist elegant, leicht auf der seriöseren Seite, aber durchaus offen und mit Wärme. Man denke auch an die zwei Spirit-Proben als neuer Gast, Tipps über Bars wurden ausgetauscht in beide Richtungen, usw. Nie fühlt man sich, als müsste man alles bierernst nehmen, weil es ja ein durchaus wichtiger Ort ist, im Gegenteil. Erneut heißt es zu einer Zürcher Bar: Hätte ich nicht soviel auf dem (Bar)Plan stehen gehabt, hätte ich mich liebend gern noch (sehr viel) weiter durchprobiert.