#32 | Line, Athens, Greece


Last Visit: May 2023

Über den – zumindest was den Namen angeht – großen Star in Athen, The Clumsies, haben wir ja bereits, durchaus mit gemischtem Fazit, gesprochen. Heute soll es um deren noch relativ junges Zweitprojekt gehen, Line. Als John und ich es letztes Jahr besucht haben, war es gerade mal ein Jahr eröffnet und man hat sich für eine besondere Location entschieden, mal ein wenig aus dem wirklich zentralsten Stadtinneren heraus. In Athen ist ja gefühlt alles so fußläufig wie sonst nur in meiner Heimatstadt Köln, was fast ein wenig verrückt ist, wenn man darüber nachdenkt und einen neuen Besucher einer so diversen und spannenden Stadt wie Athen erstmal überrascht.

Für Line wurde ein Industrie-Objekt, das zwischenzeitlich auch länger eine Galerie beherbergte, ca. 20 Minuten außerhalb des Großteils der restlichen Bar-Bubble komplett umgebaut und renoviert. Wobei ein gewisser Industrial- und Rustic-Charme erhalten werden sollte, der auch extrem gut funktioniert und mit ein paar kleinen Design-Tupfern akzentuiert wurde. Die Besonderheit des Ortes erschließt sich einem sofort bei den ersten Schritten durch die grünen Velvet-Vorhänge: die hohen Decken, die Weite und der Platz, so viele Ecken, in die man direkt schauen möchte und in denen man auch überall etwas Neues entdecken kann.

Schaut man von ganz links nach rechts, findet man zunächst die Tür zum ebenfalls sehr großzügig bemessenen Labor inkl. einiger aufwendiger und teurer Anlagen & Gerätschaften. Solche Räumlichkeiten nur für ein Labor wären mitten in einer zentralen Stadtlage fast unmöglich aka unbezahlbar. Dann rechts davon eine dunkle, erste Bar-Theke, die für High Quality-Kaffee gedacht ist und die entsprechenden Maschinen bereithält. Direkt darüber (siehe Foto oben) hat man einen coolen Einblick in einen Teil der Flaschensammlung auf der Zwischenetage darüber, die insbesondere aus den selbstproduzierten Weinen besteht. Es folgt zentral, quasi direkt gegenüber beim Eintreten, die große, einladende Haupttheke der Bar, die kommerziellen Spirits und mehr der selbstgemachten Abfüllungen sind hier zu finden. Wieder gefertigt aus dunklem Holz, das im sonst kalten Raum direkt ein wenig Heimeligkeit vermittelt und gut funktioniert. Weiter rechts geht es nochmal zu einer eigenen kleinen, halbrunden Theke aus Stein, hinter der wiederum die eigenen, hausgemachten Biere auf Taps zu finden sind.

Nein, wir sind noch nicht fertig. Rechts davon etwas, das einem direkt beim Betreten des Raums ins Auge fällt: Ein riesiges, blechernes Rolltor wie aus einer Autowerkstatt, hochgekurbelt, um den Blick auf den verglasten Wintergarten und Innenhof dahinter freizumachen, durchaus beeindruckend. Am rechten Ende des Raumes finden wir dann weitere Tische (wie auch in der Mitte inkl. steinerner Kunstobjekte und anderen Design-Details), sowie ein hölzernes, rustikales DJ-Pult mit Schallplatten und einer kleinen Bar-Bibliothek dahinter. Selten habe ich, ohne ein 5-Sterne-Hotel dahinter, und ohne die klassischen Indikatoren, wie offensichtlich sündteure Möbel oder schicke Materialien, trotzdem so stark ein Gefühl des „Luxus“ vermittelt bekommen beim Betreten einer Bar bzw. Gastro-Location. Luxus im Sinne des Platzes, dieser Freiheit und die Masse an Details, sowie gemessen an den 8–10 „klassischen Bars“, die hier drin Platz fänden, was einen recht fasziniert zurücklässt.

Setzt man sich also nicht an eine der mehreren Theken, hat man insbesondere tagsüber eher ein Restaurant- und Bistro-Feeling, wenn auch dank der Location auf High End-Niveau und mit dem merklichen Einfluss der früheren, alternativen Galerie. Der Service ist natürlich anders und nicht so proaktiv wie in engen Bars, in denen man keine 3–4 Meter vom Bartender entfernt sitzt. Das alles mit einem Menü, das sich ebenso zu 80 % wie das eines nachhaltigen, interessanten Gastro-Konzepts liest. Darauf sind 10–12 twisted Classics, die sich großteils einfach durch Beigabe bzw. Switch mit einer hausgemachten Spirituose oder eigenem Wein hervorheben. Bei manchen wiederum erkennt man rein auf der Karte gar keinen „Unique Selling Point“, was aber auch daran liegen kann, dass man nicht jede Eigenzutat auf der Karte herausstellt. Von diesen gibt es nämlich jede Menge: Hausgemachtes Bier, hausgemachten (Obst)Wein, hausgemachtes Eau De Vie, hausgemachtes Brot, hausgemachten Käse gar, hergestellt mit den Resten aus der Fermentation für Bier und Wein, Nachhaltigkeit und ganzheitliche Ansätze sind hier sehr offensichtlich eingebunden und trotzdem ohne jeden dogmatischen Anstrich. Man siehe für eine Idee des Ganzen das damalige Menü unten, man hat einige Auswahl was Snacks und kleine Speisen angeht, manche ebenso Restaurant-typisch nur für den Brunch gedacht, andere für den ganzen Tag.

Durch die Helligkeit und weiten Räume, aber auch insbesondere das deutlich entspanntere Personal im Vergleich zu The Clumsies (und man bedenke, wir waren nicht zu Stoßzeiten in letzterem), entsteht direkt ein Wohlfühlfaktor und Lust zu verweilen, sich Zeit zu lassen. Einer der drei Gründer bemerkte beispielsweise, an der Theke sitzend, wie ich zum DJ-Pult, bzw. der kleinen Bibliothek dahinter ging und ein Gedächtnisfoto des stolz positionierten Schumann-Werks „The American Bar“ machte. Er kam direkt zu uns und fragte uns, ob wir aus München kämen, was wir mit einer genaueren Erklärung verneinten, aber wir wären schon öfters dort gewesen. Sehr nett und offen erzählte er, dass sein Cousin im Schumann's arbeiten würde und er deshalb das Buch gerne vorzeigt und fragte nach, ob uns alles gefällt und wie wir in der Stadt zurechtkämen. Das bleibt in Erinnerung.

Mary Pickford

| Line’s Pomegranate Eau de Vie
| Pineapple
| Pomegranate Whyin Molasses

Ein spannender Riff auf einen typischen B-Klassiker, der Mary Pickford. Ursprünglich mit weißem Rum, einigem Ananassaft, Maraschino und Grenadine, wird hier wiederum voll auf Granatapfel gesetzt und, wie auch beim anderen Drink des Tages, auf das, was man im Labor aus jenem Granatapfel interessantes herstellt. Das ist in diesem Fall ein Brand, sowie eine Melasse unter dem eigenen Wein-Label. Beides recht aromenintensive Zutaten und das merkte man dem Drink an. Eine deutlich konzentriertere, intensivere Spitze an Aromen kommt einem direkt entgegen, im Vergleich zum klassischen Cocktail-Vorbild. Intensive Granatapfelsäure, fermentierte Ananas, Balsamico-Noten, leicht nussig dazwischen. Darüber ein wenig zu viel Schaum für meinen Geschmack, der wie auch der Drink selbst nicht ganz so kalt war, wie ich es idealerweise gerne gehabt hätte. Während die Aromen intensiv waren, wirkten sie einen Hauch zu „spitz“, wie in den Anfängen des Verjus- und Shrub-Hypes, als viele es etwas mit den Essig-artigen Noten übertrieben haben. Nett war auch das würzige Crumble als Garnish obendrauf, das in der Nase Spekulatius-Noten hervorrief. Ein spannender Drink, den ich persönlich ein wenig anders balanciert hätte. Entweder in der Ratio oder indem man noch einen weiteren Faktor, der es etwas mehr in Einklang bringt, hinzugefügt.

12 Stars Collins

| Metaxa 12 Stars
| Cotton Honey Spirit
| Cotton Honey Vinegar
| Raw Cotton Honey

Schon beim Lesen des Rezepts wird klar: Hier haben wir ein Paradebeispiel der zu erwartenden Drinks in Line, wenn man von dem Thema Nachhaltigkeit und Eigenproduktion in der Bar bereits gehört hat. 3-fache Nutzung einer einzelnen Zutat und dazu noch der berühmte griechische Weinbrand. Der im Übrigen schönerweise in sehr vielen und gerade auch den hochwertigsten Bars in der Stadt zu finden ist und das meist in der Premium-Variante 12 Stars, wie hier. Da kommt Spannung vor dem Bestellen auf. Erwartet hat einen ein wirklich sehr smoother Longdrink, der schön mit den Aromen des Honigs spielt, welcher in Form des speziellen Cotton-Honey als recht feingliedrig und floral-süß gilt. Durch den klaren Fokus auf die eine Zutat aber gefühlt auch automatisch für heutige Drink-Gewohnheiten ein wenig eindimensional wirkend. Was er machte, machte er recht gut, aber außer zarten Trauben und eben jenem Honig, immerhin mit einem netten kleinen Spike Säure, war da nicht viel zu finden. Elegant und lecker in Szene gesetzt, sind Collins’ ja auch nicht die komplexesten Drinks der Barwelt. Erfrischend, simpel und das CO₂ war im Übrigen ideal dosiert.


/jf

Kommen wir noch zu erwähntem großen Rest des Menüprogramms, man könnte fast schon sagen, das Highlight des Konzepts, auch wenn wir nur zwei, drei kleine Einblicke erhaschen konnten. Einerseits der göttliche French Toast des Line. Mit selbstgemachtem Sauerteigbrot, darauf süß-vollmundige und doch auch erfrischende Bougatsa-Creme. Bougatsa ist eine Spezialität des griechischen Nordens und kann süß oder herzhaft gemacht werden, man denke an Filoteig, der wie Blätterteig gefaltet wird und in der süßen Variante mit Grießcreme gefüllt. Dazu ein Topping mit karamellisiertem Apfel, Haselnuss und „Miso-Candy“, aka kleinen, knackigen Stückchen mit Miso-Anteil. Das Brot war nur auf einer, der Unterseite, knackig karamellisiert angebraten, die fluffige Creme erinnerte ein klein wenig an perfekte Bienenstich-Füllung, mit Noten von Honig, Ei, Grieß und Milchreis. Das Topping hat dann endgültig alles andere vergessen lassen, zwischen intensivem Apfel, Nüssen und dem erdig-vollmundigen Miso, verbunden mit kristalliner Süße von braunem Zucker. Ich konnte wirklich nicht genug davon bekommen, obwohl es eine riesengroße Portion war und das wie überall in Athen zu einem verrückt klingenden Preis bei der Qualität (7 €). John wiederum hatte die easy, aber top ausgeführte Yoghurt Bowl mit Granola, auch hier also alles top.

Dann musste man natürlich wenigstens einmal den bekannten, hausgemachten Obstwein austesten, Granatapfel schien da ganz passend nach dem Cocktail mit eben jener Frucht. Auch klangen die Aromen in der Karte am spannendsten, was der Wein dann auch einhalten konnte. Nur leicht gekühlt, wie bei normalem Wein und es stiegen Noten von (wer hätte es gedacht) Granatapfelkernen, aber auch intensiven, getrockneten Rosenblüten, etwas rauchigem Zedernholz und Gewürzen wie Anis und Nelke, sowie Walnuss auf und erstreckten sich danach auch im Mund. Ein wirklich gelungenes und bereits sehr geschliffenes Produkt, wo man bedenkenlos auch eine ganze Flasche für den Weg nachhause einpacken kann.

Der genauso lange Textanteil über die kulinarischen Erlebnisse abseits der eigentlichen Cocktails spiegelt das Fazit bereits gut wider. Line ist eigentlich eh gar keine „richtige“ Cocktailbar, sondern sehr viel mehr, sowohl im Konzept, als auch erst recht der Platzzuteilung all seiner Aspekte vor Ort. Hier kann man frühmorgens mit Kaffee und Süßigkeiten oder einem Salat starten, später Aperitivo genießen und dann abends guten Gewissens auch noch in ernsteren Drinks mit den eigenen Zutaten eintauchen. Die Drinks sind etwas stringenter und jeweils monothematischer als im Clumsies, dafür aber auch klarer auf den Punkt und mit weniger großem Brimborium drumherum, das dann in der Hauptbar Clumsies nicht immer ganz im finalen Drink rüberkam. Ehrlicher und direkter. Als Gesamtkonzept ist Line somit der klare Sieger der beiden Geschwister, denn hier wird noch viel mehr geboten und insbesondere auch die Stimmung seitens des Personals und auch in den weiten Räumen zeigt sich deutlich angenehmer. So war Line, obwohl rein Cocktail-technisch in der Komplexität der Aromen merklich hinter Barro Negro oder einem Baba Au Rhum, als Gesamterlebnis doch ein echtes Highlight unserer Athen-Tour. Würde ich sie in die World’s 50 Best Bars packen, die für mich durchaus den Fokus auf die Cocktails legen sollten und auf der sie aktuell sogar sage und schreibe auf Platz 12 sitzt? Nein. Würde ich sie jedem Athen-Besucher empfehlen als Station und habe dies bereits mehrfach? Ja.


/rds


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