#27 | No Idea, Zurich, Switzerland
Last Visit: December 2023
Es gibt diese Momente herausragender ästhetischer, künstlerischer, kultureller oder kulinarischer Anregung, die einem immer im Kopf bleiben. An die man sich noch nicht nur Jahre, sondern vielleicht Jahrzehnte zurückerinnert und an dieses ganz besondere Gefühl, das einem in diesem Moment überkam. Ein Prickeln, ein das eigene Grinsen nicht unter Kontrolle halten können, weil man so berauscht ist, diesen faszinierenden Augenblick oder auch drei Stunden gerade zu erleben.
Das kann einer der beeindruckendsten und stimmungsvollsten Kinofilme sein, in denen man je gesessen hat. Der Sound dröhnt und die Anspannung ist gigantisch. Das kann eine besondere Ausstellung oder ein besonderes Konzert sein oder auch das einhundert prozentige Zufriedensein mit einem Werk, das man selbst gerade beendet hat. Meiner Beobachtung nach geht damit oft, wenn auch nicht immer, einher, dass man relativ überrascht ist davon, wie sehr einen das gerade mitnimmt oder wie gut das gerade wirklich ist. Weil man von dem Film nichts zuvor mitbekommen hat und nur aufgrund von 1 bis 2 Sätzen Empfehlung den Besuch spontan beschloss oder weil man andersrum von der professionellen Kritik zunächst besorgt war und die genau gegenteilige eigene Begeisterung durch den Kontrast umso mehr amplifiziert wird. Warum mein Besuch der No Idea Bar auch in diese Kategorie fällt und auch zu jenen besonderen Momenten gehört und eben jene viele, viele Jahre gehören wird, möchte ich hier gerne erläutern.
Das erwähnte Element der Überraschung, das nochmal anders wirkt, als wochenlang vorgehyped irgendwo anzutreten, direkt mit dem Gedanken „Na dann zeigt mal, ob ihr wirklich Worlds50 seid“ ist einfach: Ich hatte nie von No Idea gehört. Eigentlich meine ich ganz gut in der vorbereitenden Recherche für meine Bar-Tours zu sein, doch entweder kam da nichts oder ich hatte es schnell aufgrund mangelnder Informationen ad acta gelegt und die Liste mit anderen Namen gefüllt. Daher werde ich auch ewig dem wundervollen Bartender und Menschen Anthony, aus der Nonchalant Bar (Artikl dazu folgt natürlich auch) dankbar sein, dass er mir nach ewigen Gesprächen über Bars und Drinks noch Tipps gab und speziell sagte, dass mit seiner Einschätzung wie ich ticke, ich unbedingt in das No Idea müsse. Es sei aber generell auch eine der besten Bars, wo er je war.
Es wird noch etwas skurriler, denn dies merkte ich mir zwar direkt, aber es brauchte noch einen Wink des Schicksals. Mein Plan war nämlich bereits so voll, dass ich es in den 2 Nächten nicht mehr schaffte, aber mir kam in ihrem steten, allmonatlichen Versagen die Deutsche Bahn zur Hilfe. Wie bei einer anderen Reise letztes Jahr, kam es erneut perfekt getimed zum Streik und ich durfte 1 Nacht (wobei Zürich da freilich mehr wehtut als im anderen Fall Amsterdam…) länger in der schönen Stadt verbringen. Auf ging es also zur No Idea, eine höhere Macht wollte es anscheinend.
Die Bar liegt bei der Oper, in einem Business-fokussierten Viertel, moderne Shops dazwischen, klassische Prunkhäuser und moderne Bürogebäude wechseln sich ab. In einem der letzteren liegt im Erdgeschoss, von außen relativ unscheinbar, etwas abgedunkelt die No Idea Bar. In einem anderen Artikel las ich, dass man es auf den ersten Blick für ein modernes Interior Design- & Möbel-Geschäft halten könne und dem stimme ich im positivsten Sinne zu. Hier wird ästhetisch, insbesondere für eine unabhängige Bar ohne 5-Sterne-Hotel dahinter Großes geboten. Es wirkt wie eine perfekt geplante Lounge in einem eben jener Sterne-Refugien mit leicht pazifischem und japanischen Touch, nur mit mehr Charakter und charmanter, da einerseits mehr cozy und da man außerdem direkt die verglaste und somit teils sichtbare Küche sieht.
Auch das zentrale Element ist interessant, ein großer Tisch für Gruppen oder eben um gemeinsam mit zunächst Fremdem dort zu sitzen, ähnlich dem Les Fleurs du Mal in München, mit einer noch deutlich größeren Tafel im japanischen Stil. An dessen Kopf ist die Theke bzw. „eine“ Theke. Oder ist es überhaupt eine Theke, wenn man ja gar nicht direkt daran sitzt? Alles hat hier seinen leicht eigenen Stil, eine Backbar mit Flaschen fehlt zum Beispiel komplett und das ist gut so. Die No Idea ist nämlich Konzeptbar durch und durch, hier soll wie in den heiligsten Tempeln der essbaren Gastronomie in Restaurants, eine Idee vorgestellt werden, der Besucher auf eine Reise genommen, die großteils immer selben Flaschen kann man ja auch in anderen Locations bestaunen.
Reise ist dabei gleich im doppelten Sinne zutreffend, kulinarisch-emotional, aber auch konkret in dem Design des Menüs. Seines Zeichens modern passend schlicht nummeriert benannt und mir vorgestellt, „004“, die vierte Saison. Das Thema: „Maritime“, wie man auf dem extrem edel gebundenen Werk lesen kann. Genauer sollte es um die Faszination von Entdeckern und dem Ozean generell gehen, weite Reisen, Geheimnisse, Fantasien, etc. Ganz unten hänge ich einige Bilder des Menüs an für Inspiration und damit man es sich vorstellen kann.
Jede Seite enthält einen Drink, mit einigen der wunderschönsten und aufwendigsten Illustrationen und Texten, die ich bisher in Menüs gesehen habe. 15 Cocktails, die jedes Halbjahr ausgetauscht werden und das gesamte Konzept neu geplant. Dazu eine zweite, ebenso schön gebundene, wenn auch innen schlichtere Karte für das Essen mit diversen Snacks und auch warmen, oft asiatisch inspirierten Gerichten. Manche der letzteren, insbesondere die wundervollen Dumplings, die ich an dem Abend hatte, werden in Kooperation von einem High End Asia-Catering in Zürich geliefert, einige aber auch selbst zubereitet.
Was mir direkt auffiel: Trotz des extrem hochwertigen und edlen Äußeren, der Präzision und Durchdachtheit, fühlt man sich nie abgehängt oder klein, im Gegenteil war der Service sowohl direkt vom Besitzer Andrew, als auch dem Personal warm und direkt, man fühlte sich direkt wohl und willkommen. Die kleinen Details machen viel aus, ein nicht-alkoholischer Begrüßungsdrink, auch im Stile japanischer Gastronomie, beim Service kniet man sich oft sogar hin, um auf einer Ebene mit den oft in den bequemen Sesseln und Sofas tief sitzenden Gästen zu sein. Fragen nach Gläsern oder zum Menü wurden sehr freundlich und direkt beantwortet. Auch als es voller wurde, hatte man immer das Gefühl Zeit in Anspruch nehmen zu können, wie es sein sollte, aber eben nicht überall so ist.
Shipwreck Champagne
| Patrón Anejo Tequila
| Nuet Dry Aquavit
| Almond Oolong Cordial
| Clarified White Grape Juice
| Black Cardamom Bitters
Vor knapp 15 Jahren wurden zahlreiche Champagnerflaschen von einem 1852 gesunkenen Schiff in der baltischen See, vor Finnland geborgen. Viele davon gingen zu Auktionen, eine einzelne Flasche wurde in NYC für 30.000 € nach Singapur versteigert. Von diesem Fund ist der Drink inspiriert und soll als interessanten Twist quasi einen klassischen Champagner-Cocktail, wie es ihn auf jeder Karte geben sollte, aber ohne den französischen Schaumwein selbst zu nutzen, nachahmen. Dabei kommen unter anderem hausgemacht karbonisierter Traubensaft und eigene Kardamom-Bitters vor. Ein perfekter Starter und doch sehr aromatisch, florale Noten, feine Röstnoten von getoasteten hellen Nüssen, opulent und vollmundig, dabei prickelnd trocken und die Idee des Champagner „Imitats“ perfekt umsetzend. Insbesondere das Cordial mit den passenden nussigen Noten tut hier Wunder, sowie der malzig-rauchige Oolong.
Challenger Deep
| Ceylon Arrack
| Soy Milk
| Calamansi
| Lime
| Purple Ube
| Mandarin
| Toasted Coconut
| Taro Root
Der zweite Drink wurde der Challenger Deep. Einerseits schlicht, weil ich den Namen mochte, andererseits teste ich immer gerne Drinks mit Arrack, wenn man mal welche findet und spätestens als mir dann von der Besonderheit der Zubereitung erzählt wurde, war ich fasziniert. Inspiriert von der namensgebenden tiefsten Stelle der Meere, unten kalt und tiefschwarz, oben pazifisch warm und lichtdurchflutet, wird der Drink quasi getrennt zubereitet in zwei Schichten. Unten normal eiskalt gemixt, oben ein angenehm warmer Sojamilch-Schaum mit intensiver lila Ube. Dabei ergeben all die asiatischen Zutaten ein Gesamtwerk, in dem alles verschwimmt zu einem einzigen, silky-smoothen und tropischen Geschmackserlebnis. Noten von Kokosnuss, Reis, diversen Zitrusfrüchten, Röstnoten und auch leicht kulinarisch-krautige Noten, sowie fruchtige Ube kommen durch. Einerseits ein easy Sipper, aber mit ungewohnten und faszinierenden Aromen.
Maritime Silkroad
| Housemade Distillate with Chai Tea, Greek Fennel, Black Cardamom, etc.
| Luis XIV Vermouth
| Campari
Der Maritime Silkroad sorgt dafür, dass ja eigentlich 17 und nicht 15 Drinks auf der Karte sind, denn hier haben wir eine Wahl aus 3 besonderen Negronis. Passend zur namensgebenden, historischen Handelsroute von globaler Bedeutung hat man die Wahl aus einem zitruslastigen Negroni von Persien inspiriert, Indien mit Gewürzen oder Asien mit floralen Noten. Meine Wahl fiel auf Indien, erwartet hat mich ein Negroni, der perfekt die Balance aus Eleganz und Spicyness legte. Ein leicht pfeffriger und tee-lastiger Nachgeschmack, jedoch ohne harte Bitterkeit, dafür konnte man noch eine Minute im Mund versuchen, die einzelnen Noten zu entschlüsseln. Im Übrigen wird der persische Negroni mit Suze statt Campari zubereitet, der Asia halb-halb, das fantastische Eigendestillat bleibt immer gleich und die Wermuts ändern sich als Hauptunterschied. Dazu gab es ein wundervolles Jelly aus Tamarinde, ein schöner, fruchtig-süßer Ausgleich zu dem würzigen Signature Negroni.
The Drake Passage
| Iberian Chourico Distillate
| Chimichurri Cordial
| Arctic Moss Tea
Als großer Fan und Besitzer alter Seekarten musste der Drake Passage natürlich ebenfalls begutachtet werden. Aber auch als der Drink mit der wohl faszinierendsten, wenn auch an sich kurzen Zutatenliste, hatte ich ihn mir von Beginn an als Abschied vorgenommen. Ein im Gyrovap hergestelltes Destillat aus Chorizo, angelehnt an die damals spanischen Städte an der Westküste Südamerikas, arktischer Moos-Tee (die Drake-Passage führt durch tückische, antarktische Gewässer) und ein argentinisches Chimichurri Cordial (Chile und Argentinien grenzen natürlich an die Seepassage). Noch nicht konzeptionell genug? Wait for it. Dazu gibt es ein Menthol-Coconut Sorbet, oben im Löffel zu sehen. Zusammen soll dann neben den geografisch inspirierten Zutaten die Mischung aus erdig-deftigen Zutaten an das harsche Land einerseits erinnern, dem man bei der Durchquerung nahekommt. Andererseits beim Verköstigen des frischen Menthol-Eises das Bild der Eisberge im Kopf vermittelt werden, die man in der Nähe der Schiffe vorbeischwimmen sah und fürchtete.
So. In 98% aller Bars würde ich innerlich über diese Herleitung oder dieses sehr spezielle, detaillierte Konzept innerlich schmunzeln, wissend, dass ich gleich beim Drink gefühlt 30% davon fühle oder schmecke. Nicht so hier, ich war gespannt und wurde begeistert. Sicherlich der auf einer bereits spannenden Karte nochmal charakterstärkste und speziellste Drink. Mehr an eine erdige, auch Umami-gefüllte Misosuppe erinnernd. Moosig-grüne, aber auch erdig-rote und fleischige Noten verbreiten sich, jedoch auch mit leichter Frische vom Tee, ohne jedoch je eine Grenze der Merkwürdigkeit zu überschreiten, sondern sehr aromatisch und balanciert. Nimmt man dann von dem Eis, haut es einen wirklich weg, so intensiv wirkt das Menthol. Zur Balance etwas cremige, zarte Kokosnuss und man will fast lachen, weil nach der erzählten Geschichte, durch wiederum die perfekte Ausführung, jene Bilder wirklich auftauchen und sich vor einem abspielen, ob man will oder nicht. Einer der verrücktesten, aber auch erinnerungswürdigsten Drinks, die ich je hatte, that is for sure.
Das Einzige, was ich am Ende dieses Abends bereut habe, ist einerseits erst so spät während meinem Trip hierhergekommen zu sein und daher nur 4 Drinks probieren zu können. Sowie noch viel mehr, dass meine Begleitung bereits abgereist war und ich generell das Erlebnis mit mindestens einem Dutzend Menschen, die mir noch in der Bar durch den Kopf gingen, gerne geteilt hätte (das muss zumindest anteilig noch nachgeholt werden).
In einer Kolumne in der NZZ über Zürichs Barentwicklung schrieb Urs Bühler mit Blick auf die ebenfalls fantastische Bar am Wasser, sowie die No Idea und die Ambitionen mancher Projekte, dass die besten Cocktailbars der Welt vielleicht inzwischen sogar die Spitze der innovativen Gastronomie im Allgemeinen bilden würden. Als jemand, der sich nun schon Jahre auch als faszinierter Beobachter und Konsument zahlreicher Literatur und Videos zu High End-Restaurants betätigt, muss ich dem widersprechen. Insbesondere das Momentum des Innovationsparts liegt noch deutlich bei den Restaurants, rein ökonomisch ist die Disparität hier auch für das gleiche Erlebnis zu einem 3-Sterne-Restaurant zu groß und wird es vielleicht auch immer bleiben. Aber: Ob es an Andrew Suttons Erfahrung im Fine Dining und gehobenen Patisserie liegt, dem Gespür seiner Partnerin Jasmine Suttons für Ästhetik und Design oder generell der funktionierenden Philosophie der Bar und Ausbildung des Teams: Mein Besuch in der No Idea-Bar hat mich so nah an das Erlebnis eines 3-Sterne-Restaurants in der Barwelt geführt, wie vielleicht keine andere bisher.
/rds
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004 | "Maritime"
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